Referenzaufnahme: Chopin-Etüden

Die Etüden von Frédéric Chopin gehören ohne jeden Zweifel mit zu dem anspruchsvollsten, was die Klaviermusik zu bieten hat. Sie umfassen die beiden Zyklen op. 10 und op. 25 (außerdem noch drei einzelne Etüden, die keine Opuszahl tragen und erst posthum veröffentlich wurden). Anders als die Klavieretüden seiner Zeit, wie etwa die bis heute noch im Klavierunterricht eingesetzten Czerny-Etüden, waren Chopins Etüden nicht in erster Linie technisch, sondern musikalisch geprägt. D.h., sie behandelten zwar technische Probleme des Klavierspiels (genauer gesagt: je ein spezielles Problem pro Etüde), aber die Technik war dabei stets der Musik untergeordnet, so dass die Chopin-Etüden bis heute sehr ergreifend klingen. Dass Chopin sich hierbei über weite Strecken von J.S.Bachs Wohltemperierten Klavier hat inspirieren lassen und den Quintenzirkel wie auch der große Barockmusiker durchwanderte, ist kein Geheimnis. Einige der Etüden von Chopin erhielten später eigene Namen, wie etwa die Revolutionsetüde, die Schwarze-Tasten-Etüde oder die Etüde ‚In mir erklingt ein Lied‘. Kaum ein Pianist kommt in seiner Karriere an diesen Etüden vorbei, weshalb es auch entsprechend viele Einspielungen gibt. Wir stellen die wichtigsten Aufnahmen kurz vor und empfehlen drei Referenzaufnahmen der Chopin-Etüden.

Referenzaufnahme, Chopin: Etudes, Nr. 1: Pollini


An der Einspielung von Maurizio Pollini gibt es kein Vorbeikommen. Der italienische Pianist gewann 1960 als 18-Jähriger den wohl berühmtesten internationalen Wettbewerb für Pianisten, den Chopin-Wettbewerb. Kein Wunder, dass Pollini in den Jahren darauf in erster Linie mit Einspielungen von Chopin-Stücken auf sich aufmerksam machte. 1972 schließlich, rund zwölf Jahre nach seinem Triumph beim Chopin-Wettbewerb, nahm der Weltstar die Etüden von Chopin auf und setzte ihnen damit ein Denkmal, das bis heute unerreicht ist. Diese Aufnahme gilt, nicht nur bei Kennern, als die Referenzaufnahme der Etüden von Chopin. Sie ist aufnahmetechnisch einwandfrei, pianistisch betrachtet ist sie von atemberaubender Perfektion und musikalisch von einer so unangestrengten, ja, fast schon bescheidenen Meisterschaft, dass es keine zweite Meinung zum Thema Referenzaufnahme dieser Etüden geben kann! Wer diese Aufnahme noch nicht hat, der muss sie sich zulegen, sie gehört schlicht und ergreifend in jedes CD-Regal.

Hier geht es zur Referenzaufnahme der Chopin-Etüden mit Maurizio Pollini von 1972 (Deutsche Grammophon)

Referenzaufnahme, Chopin Etüden, Nr. 2: Cortot


Ob Alfred Cortot, der 1962 verstarb, den jungen Maurizio Pollini jemals live gehört hat (etwa bei dessen Sieg im Chopin-Wettbewerb) ist nicht überliefert. Hätte er den jungen Italiener damals aber gehört, hätte er vermutlich erkannt, dass hier eine Wachablösung vor sich ging. Denn vor der maßstabsetzenden Interpretation Pollinis galt Cortot im frühen 20. Jahrhundert als die Instanz, wenn es um Chopin-Interpretationen ging. Während viele Interpreten der heutigen Zeit sich oft sklavisch an den Notentext halten, standen für den Franzosen Musikalität und Ausdruck im Vordergrund. Er ist daher berühmt für seine ‚falschen Noten‘, die er auch auf den Schallplattenaufnahmen spielte – erstaunlicherweise jedoch immer so, dass sie nie negativ auffallen, ein Phänomen, das für heutige Hörer moderner Aufnahmen oft nicht leicht zu erklären ist. Da es von Cortot unzählige Aufnahmen gibt, sind diese i.d.R. für sehr wenig Geld zu haben. Eine Gesamtaufnahme der Chopin-Etüden, die zweifelsfrei den Titel „Referenzaufnahme“ verdienen, gibt es schon für weniger als 10 Euro (in einer Aufnahme, die in den späten 30er-Jahren entstanden ist).

Hier geht es zur Referenzaufnahme der Chopin-Etüden mit Alfred Cortot (30er Jahre).

Referenzaufnahme, Chopin-Etüden, Nr. 3: Perahia


Abschließend sei hier eine jüngere Aufnahme vorgestellt, die vielleicht nicht unbedingt als eine Referenzaufnahme gelten kann, die aber ohne Zweifel eine gute Alternative zu Pollini und Cortot bietet. Es geht um die Aufnahme des US-amerikanischen Pianisten Murray Perahia, der nur 5 Jahre jünger als Pollini ist, die Etüden von Chopin jedoch erst 31 Jahre nach dem Italiener aufnahm, im Jahr 2003. Dass er dafür einen „Grammy Award“ in der Kategorie „Best Instrumental Soloist Performance“ erhielt zeigt, dass er mit seiner modern-virtuosen auch ein Publikum erreicht, das klassischer Musik ansonsten nicht so sehr zugeneigt ist. Die Tempi der Etüden sind bei Perahia z.T. atemberaubend, wie z.B. in der Etüde op. 10 Nr. 1, die man so schnell noch nie gehört hat – wohlgemerkt ohne, dass dabei die Musikalität zu kurz käme. Auch wenn es in der Terzen-Etüde op. 25 Nr. 6 manchmal hörbar ‚klappert‘ oder das Pedal in der Oktav-Etüde op. 25 Nr. 10 zuweilen sehr großzügig eingesetzt wird setzt diese Aufnahme Standards. Nicht immer 100%ig überzeugend, reißt sie doch mit und ist daher sehr zu empfehlen. Favorit neben der bereits erwähnten Etüde op. 10 Nr. 1 ist die Etüde op. 25 Nr. 11 (a-Moll), die klingt wie eine in Zeitlupe zerspringende Glasflasche und die man am liebsten auf Repeat stellen möchte.

Hier geht es zu der (mit Einschränkungen) Referenzaufnahme der Etüden von Chopin mit Murray Perahia von 2003, (Sony Music).

Variationen der Chopin-Etüden

An dieser Stelle sei noch rasch der Hinweis auf eine sehr eigentümliche, aber nicht uninteressante Aufnahme der Chopin-Etüden in Bearbeitung von Godowsky gemacht, eingespielt von Marc-André Hamelin. Das Ganze heißt The Complete Studies on Chopin’s Etudes und ist ein Zyklus von Bearbeitungen, die der berühmte Pianist und Chopin-Interpret Leopold Godowsky in den Jahren 1893–1914 erstellte. Ihm waren -technisch betrachtet- die Etüden noch nicht herausfordernd genug (eine Aussage die manche Klavierschüler wohl nur ungläubig gucken lässt…). Daher bearbeitete er sie, machte sie schwieriger, verlegte komplizierte Figuren ausschließlich in die linke Hand und machte sie damit noch schwieriger und hypervirtuos. Wenige Pianisten haben sich bisher die Mühe gemacht, diese Bearbeitungen zu spielen. Doch vor einigen Jahren (2000) nahm Marc-André Hamelin, der wohl zu den technisch besten Pianisten unserer Zeit zählt, diese Studien komplett für das Label Hyperion auf. Wer also einen interessanten alternativen Blick auf Chopins Etüden werfen möchte, dem sei diese einzigartige Aufnahme der Godowsky-Bearbeitungen empfohlen: Godowsky: The Complete Studies on Chopin’s Etudes.

Bildnachweis: Chopin Keyboard at the ROM (Royal Ontario Museum), by David Sky, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0. Link zum Bild.

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