Mahler, Symphonien – Gesamtaufnahme

Gustav Mahler übt bis auf den heutigen Tag eine ganz besondere Faszination aus. Selbst einem Publikum, dass mit klassischer Musik nicht viel am Hut hat, ist Mahler vertraut, wenn auch oft nur indirekt: Denn Mahlers Musik wird häufig in Kinofilmen verwendet, wie etwa in Luchino Viscontis Tod in Venedig (1971), Alfonso Cuaróns Children of Men (2006), Gaspar Noés Irreversibel (2002), oder Martin Scorseses Shutter Island (2010). Letzterer wählt sogar zur musikalischen Untermalung nicht aus dem großen Pool der symphonischen Musik Mahlers aus, sondern ein frühes Klavierquartett in a-Moll von 1876 (das Mahler als 16-jähriger komponierte). Professionelle Musiker geraten regelmäßig ins Schwärmen, wenn sie über Mahlers Musik reden. V.a. die 9. Symphonie von Mahler (1909-10) regte und regt immer wieder euphorische Kommentare an; Karajan nannte sie „nicht von dieser Welt“, Bernstein „terrifying, and paralyzing“ und Alban Berg fand in ihr den wahren Ausdruck der „Liebe zur Erde, zur Natur.“ Mahlers Musik kennzeichnet den Übergang von der Spätromantik zur Musik der frühen Moderne. 1860 geboren, begann Mahler als 29-jähriger mit der Komposition seiner ersten Symphonie (1889); insgesamt komponierte er (wie vor ihm schon Schubert und Beethoven) 9 Symphonien und hinterließ Skizzen zu einer 10. Symphonie. Gesamtaufnahmen der 9 Symphonien Gustav Mahlers gibt es viele, hinzukommen zahllose Aufnahmen einzelner Symphonien. Wir werden in diesem kurzen Beitrag zwei Gesamtaufnahmen vorstellen, von denen wir glauben, dass sie als Referenzaufnahme der Sinfonien Mahlers gelten können. Ergänzungen und Kritiken zu dieser Auswahl der Gesamtaufnahmen der Mahlersinfonien wünschen wir uns – wie immer – sehr gerne in den Kommentaren zu diesem Artikel.


 

Referenzaufnahme Nr. 1 der Mahlersinfonien: Pierre Boulez, 1995-2007

Die Nennung von Boulez als Referenzaufnahme der Sinfonien Mahlers ist, dessen sind wir uns durchaus bewusst, kühn. Denn streng genommen hat Boulez keine wirklich GA vorgelegt. Er ist nicht mit einem Orchester ins Studio gegangen, hat dort ein paar Wochen vor den Mikrofonen gestanden und am Ende eine Boulez-Mahler-Box herausgegeben. Dennoch hat er alle neun Mahler-Symphonien aufgenommen; wenngleich über viele Jahre hinweg, für verschiedene Label (meist für die DGG) und mit unterschiedlichen Orchestern. Aber vielleicht ist es gerade diese Diskontinuität in Boulez Arbeit an den Mahler-Sinfonien, die seine Aufnahmen so spannend und facettenreich machen.

Die Aufnahme aller 9 Sinfonien erstreckt sich über einen Zeitraum von rund 12 Jahren. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Aufnahmen der 9. Sinfonie, mit dem atemberaubenden pp und dem quälend-langsamen Andante comodo im 1. Satz; sowie die 6. Symphonie, mit ihrem marschartigen Auftakt, den Boulez temperamentvoll interpretiert, ohne sich völlig in überschwänglichem Ausdruck zu verlieren, vielmehr legt er Wert auf klare Rhythmik und strenge Dynamik (eine Tugend, die Boulez auch im 2. Satz der 6. Sinfonie („Scherzo. Wuchtig.“) pflegt; ein Satz, der in anderen Interpretationen gelegentlich über das Ziel hinausschießt und mehr „wuchtig“ als „Scherzo“ ertönt). Das aus dem bereits erwähnten Film Tod in Venedig hinlänglich bekannte Adagietto der 5. Sinfonie (mit dem Kommentar „sehr langsam“ versehen) wird bei Boulez zu einer großen Träumerei, ohne ins kitschig-verquollene abzugleiten (kein Streicher-Einheitsbrei, um einen besonders großen Effekt zu erzielen, sondern vielmehr klare Melodik und aufeinander abgestimmte, subtile Dynamik). Überhaupt befreit Boulez Mahler systematisch vom Bombast, den er durch diverse filmmusikalische Einspielungen über die Jahre erhalten hat. In der 1. Symphonie („Der Titan“) tanzt das Orchester im 2. Satz („Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell“) heiter und leichtfüßig dahin, anstatt wie ein Militärmarsch vor den Ohren des Zuhörers dahinzuziehen.

Kurz: Boulez Aufnahme bietet einen klaren, intelligenten Mahler; einen Mahler, wie ihn Mahler vermutlich selbst gerne gehört hätte. Dass die Aufnahmen bislang leider nur als Einzel-CDs vorliegen ist bedauerlich und leider auch etwas kostspielig. Lohnenswert ist die Anschaffung hingegen auf alle Fälle; denn Boulez Mahler ist zweifellos eine wahre Referenzaufnahme:

Referenzaufnahme Nr. 2 der Mahlersymphonien: Leonard Bernstein, 1974/75


Die Gesamtaufnahme der Symphonien Gustav Mahlers von Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic Orchestra aus den Jahren 1974-75 ist ohne Frage ein Meilenstein der Mahler-Aufnahmen mit eindeutigem Referenz-Charakter. Anders als Boulez steht für Bernstein häufig ungezügelte Leidenschaft im Vordergrund seiner Interpretationen. Da es sich zudem um Bernsteins erste vollständige Mahler-Einspielung handelt, hört man vielen Aufnahmen an, wie sehr sie die Handbremse loslassen und drauflosfahren wollen. Trotzdem entgleitet Bernstein keine einzige Aufnahme.

Die Seufzer im 1. Satz der 9. Sinfonie sind so tief empfunden, dass sie einem glatt den Atem rauben; anders als in anderen Einspielungen der 9. Sinfonie sind sei kein ruhiges Ausatmen oder Schnauben sondern gleichen eher einem aufgeregten Hecheln. Auch in der 2. Sinfonie („Auferstehungssymphonie“) zeigt Bernstein im 1. Satz große Emotionalität, besonders in den Basslinien der ersten Takte, die etwas nervös-aufgeregtes haben, das fast schon pathologisch wirkt. Gleiches gilt für den tänzelnden Auftakt der 4. Sinfonie, das heiter-beschwingte des 1. Satzes erhält bei Bernstein stets eine nervöse Note, die er durch Tempo, akzentuierte Rhythmik und scharf kontrastierende Dynamik erzielt.

Ebenfalls enthalten auf dieser wunderbaren Aufnahme ist der rekonstruierte 1. Satz der 10. Symphonie von Gustav Mahler, sowie Das Lied von der Erde (mit einer großartigen Christa Ludwig!). Der einzige Wermutstropfen ist der ziemlich hohe Preis der Box, der mit etwa 100€ nichts für kleine Geldbeutel ist. Dennoch ist es eine Anschaffung, die wir selbst nie bereut haben.

Hier geht es zur Referenzaufnahme der Mahler-Symphonien mit Leonard Bernstein.

Quellennachweis: „Gustav Mahler Gedenktafel am Sterbehaus (Sanatorium Loew)“, by Walter Anton, via WikiMedia (Lizenz: CC BY 3.0)


 

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