Referenzaufnahme: Schubert, Winterreise

Franz Schuberts Winterreise (D 911) ist ohne Zweifel der berühmteste Liederzyklus des österreichischen Komponisten, ja, vielleicht sogar der berühmteste Liederzyklus überhaupt. Die Silcher-Bearbeitungen des fünften Liedes aus dem Zyklus – Der Lindenbaum – zählt noch heute zum Standard-Repertoire der meisten Chöre (das Lied ist daher auch besser bekannt als „Am Brunnen vor dem Thore“). Auch die Klavierbearbeitungen von Franz Liszt haben ungemein zur Popularisierung von Schuberts Winterreise beigetragen. Sogar einen Film zur Winterreise gibt es, der 1997 vom Regisseur David Alden gedreht wurde und das Duo Bostridge (Tenor) und Drake (Klavier) in den Hauptrollen hat. Die Winterreise, die Schubert nur ein Jahr vor seinem Tod vollendete (1827), basiert auf Texten des Dessauer Dichters Wilhelm Müller, der im selben Jahr (1827) verstarb. Die Reise durch den kalten Winter ist auch eine Reise durch das Leben des Menschen. Jedes Lied ist eine kleine Station dieser Reise: Mal sehnsüchtige Erinnerung an frühe Jugendtage („Frühlingstraum“), mal alltägliche Szenen, die einem auf der Wanderschaft begegnen („Die Post“), mal Todessehnsucht („Die Krähe“) und am Ende die pure Resignation, Verzweiflung und das Erfrieren („Der Leiermann“). Bei dieser musikalischen Tiefe und der gleichzeitigen Popularität des Zyklus nimmt es nicht Wunder, dass die Winterreise von Franz Schubert von allen großen Sängerinnen und Sängern früher oder später in ihrer Karriere einmal aufgenommen wurde. Von manchen Sängern, wie Fischer-Dieskau, existieren sogar mehrere Aufnahmen. Um bei der großen Zahl von Aufnahmen die entscheidenden Referenzaufnahmen der Winterreise zu finden, stellen wir hier drei Einspielungen vor, die dieses Prädikat verdienen und eindeutig in jede gute Plattensammlung gehören.

SATB: Sopran, Alt, Tenor, Bass: Welche Stimmlage darf’s denn sein?

Obwohl der Winterreise-Zyklus von zahlreichen Sängerinnen und Sängern eingespielt wurde, überwiegen die Aufnahmen von männlichen Sängern deutlich; unter diesen sind wiederum die Aufnahmen durch Bässe und Baritone in der Überzahl. Warum das so ist, kann nur gemutmaßt werden. Vermutlich, weil das lyrische Ich der Gedichte ein eindeutig männliches Ich ist, wird die Winterreise häufiger von männlichen Sängern aufgeführt; und weil die heldenhafte Tenor-Lage dem lyrischen, in sich gekehrten Gestus der Lieder nicht immer gerecht wird, sind die meisten Aufnahmen wohl von Baritonen und Bässen aufgenommen worden. Wir stellen daher zwei Bass/Bariton-Aufnahmen vor, die wir für Referenzaufnahmen halten.

1. Referenzaufnahme der Winterreise: Fischer-Dieskau

Man kann nicht über Schubert sprechen, ohne den weltberühmten Berliner Bariton Dietrich_Fischer-Dieskau zu nennen. Denn Fischer-Dieskau nahm als erster Sänger sämtliche Schubert-Lieder auf Platte auf (Schubert-Lieder Gesamtaufnahme DGG). Der Bariton, der als der größte Liedsänger im 20. Jahrhundert gilt, begann seine Karriere bezeichnenderweise mit einer Aufnahme der Winterreise, die er als 23-jähriger Student für den Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) aufnahm (1948). Doch seine berühmteren und zweifellos auch besseren Aufnahmen der Winterreise machte Fischer-Dieskau in den 60er- und 70er Jahren. Dabei wurde er von äußerst namhaften Pianisten begleitet, wie z.B. Daniel Barenboim oder Alfred Brendel. Doch seine allerbeste Aufnahme der Winterreise machte Fischer-Dieskau mit dem englischen Liedbegleiter Gerald Moore (1899-1987). Die erste Aufnahme mit Moore stammt von 1963 (EMI), die zweite von 1971 (DGG). Es ist besonders diese zweite Aufnahme, die hörenswert ist und als Referenzaufnahme der Winterreise gelten muss. Der Gesang von Fischer-Dieskau ist auf dieser Einspielung weniger glatt, rauher und aufgeriebener als in der sanglich sauberen Einspielung von 1963. Diese Rauheit schmiegt sich dem Charakter der Winterreise an wie ein perfekt passender Handschuh. Die Tempi sind zudem weniger kitschig-schmachtend als aufgeregt-drängend. Damit ist diese Einspielung Winter und Reise zugleich. Wenn man diese Aufnahme hört, möchte man fast meinen, Schubert müsse genau diesen Klang im Ohr gehabt haben, als er seinen Zyklus komponierte. Die Einspielung ist zweiffelos die Referenzaufnahme von Schuberts Winterreise und der Maßstab für alle Einspielungen der späteren Zeit.

Hier geht es zur Referenzaufnahme von Schuberts Winterreise mit Fischer-Dieskau und Moore von 1971 (DGG).

2. Referenzaufnahme der Winterreise: Quasthoff

Wie auch Fischer-Dieskau, widmete sich Thomas Quasthoff gleich mehrfach der Winterreise. Gleich drei Mal nahm der Hildesheimer Bassbariton den Zyklus auf CD auf. Erstmals 1989 mit Martin Galling am Klavier. Damals war Quasthoff als Gewinner des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD (1988) gerade in der deutschen Gesangszene berühmt geworden. Doch blieb der Erfolg dieser Einspielung eindeutig hinter Quasthoffs Einspielung ausgewählter Loewe-Balladen aus dem gleichen Jahr (1989) zurück. 1998 nahm er den Zyklus folglich erneut auf, diesmal mit Charles Spencer am Klavier (RCA), 2005 schließlich ein drittes Mal, dieses Mal mit Daniel Barenboim als Begleiter (Universal, DVD). Diese DVD-Aufnahme mit Barenboim in der Berliner Philharmonie ist es, die wir hier als Referenz anführen möchten. Die beiden Künstler verstehen sich blind und schaffen es, aus Schuberts Zyklus ein meisterhaftes Klangpanorama hervorzuzaubern, dass den Hörer sofort in seinen Bann schlägt.

Hier geht es zur Referenzaufnahme von Schuberts Winterreise mit Quasthoff und Barenboim von 2005 (DVD, Universal).

Weitere, beachtenswerte Einspielungen der Winterreise

Es gibt zahlreiche weitere Aufnahmen der Winterreise, die hörenswert sind. Alle vorzustellen, ist weder möglich, noch – auf einer Seite, die sich gezielt mit Referenzaufnahmen auseinandersetzt – wünschenswert. Dennoch listen wir hier drei weitere Aufnahmen auf, die dem Schubert-Liebhaber ans Herz gelegt seien.

  • Matthias Goerne (Bariton), Alfred Brendel (Klavier), 2005. Link.
  • Christine Schäfer (Sopran), Eric Schneider (Klavier), 2006 (man beachte die wirklich raschen Tempi dieser Aufnahme!). Link.
  • Peter Schreier (Tenor), András Schiff (Klavier), 1994. Link.

Bildnachweis: Winterlandschaft mit Rindern, von Franco Rabazzo, via flickr.com, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0. Link zum Bild.

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