Vor 15 Jahren ist einer der vielleicht bedeutsamsten Komponisten des späten 20. Jahrhunderts vertorben, Alfred Schnittke (1934-98). Seine Musik zu kategorisieren ist ein Unterfangen, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Zu vielseitig sind die Kompositionen des russlanddeutschen Komponisten. Schnittkes eigene Bezeichnung seines Stils trägt diesem Umstand Rechnung: Polystilistik hat er ihn genannt. Große Teile der „klassischen“ Musik im 20. Jahrhundert konnten kein großes Publikum mehr erreichen und schreckten gelegentlich sogar erfahrene Konzertbesucher ab. Besonders die sogenannte „serielle Musik“ (1947 von René Leibowitz „erfunden“ und von Stockhausen, Nono, Boulez und Berio weitergeführt), die (grob gesagt) auf mathematischen Berechnungen beruht, war für viele als „Kopfgeburt“ und „Papiermusik“ verschrieen, die keinerlei emotionale Dimension besitze. Schnittkes Musik hingegen ist sehr leidenschaftlich und emotional, ohne dabei einfach nur hinter die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts zurückzufallen und einfach wieder „tonal“ zu sein (auch wenn für Schnittke Tonalität nichts Verdammenswertes ist, wie bei vielen seiner Komponistenkollegen im 20. und 21. Jahrhundert). Schnittke geht es gerade um die Differenz der Stile: „Moderne Musik“ und traditionell tonale Musik. Diese Differenz soll innerhalb eines musikalischen Erlebnisses zum Hören gebracht werden und somit die Erweiterung der Musik erfahrbar machen. Viele von Schnittkes Kompositionen sind für das Klavier geschrieben (solo, in Konzertform oder kammermusikalischer Besetzung). Wir stellen an dieser Stelle daher einige der wichtigsten Kompositionen Alfred Schnittkes für das Klavier vor und nennen einige wichtige CD-Aufnahmen.
1. Alfred Schnittke, Klavierkonzerte
Das bekannteste von Schnittkes Klavierkonzerten ist das Konzert für Klavier und Streicher aus dem Jahr 1979. Es beginnt mit einigen ruhigen (Moderato) und leisen (p) Solo-Intervallen des Klaviers, dann Solo-Akkorde, die sich allmählich graduell in Intensität und Lautstärke steigern (mp, mf, f), bevor sie wieder abnehmen und mit repetierenden Triolenfiguren diese Einleitung beruhigen. Dann folgt das wundervolle und berückend schöne Andante (immer noch Klavier solo) mit seinen Akkordbrechungen, die fast nach einer Klaviersonate Haydns oder Mozarts aussehen. Hier gesellen sich plötzlich die Streicher hinzu, die schließlich die Triolenfiguren des Soloklaviers übernehmen. Das klingt dann zeitweise sogar fast nach Minimal Music, die in polystilistischer Manier, durch die harten Klavierakkorde gestört wird. Gleiches Verfahren im Maestoso: Die Streicher klingen nach erbaulicher Filmmusik, wie man sie aus Schlussszenen kennt, doch das Klavier hämmert hart und unnachgiebig Akkorde dazu; die Streicher lassen sich davon infizieren, übernehmen die harten Akkorde zeitweise. Dann folgt eine Vierteltonpassage der Streicher, während das Klavier melancholische Triolen-gegen-Gerade-Figuren spielt. Das Material bis hierher wird immer wieder aufgegriffen, das Allegro ist eine hektische Variation des vorherigen Andante, die von unruhigen Streichern begleitet wird, die an Bernard Herrmanns Psycho-Soundtrack erinnern. Dann schließlich ein Walser. Dann komplizierte Clusterfiguren. Dann lange Pausen. Dann langsam das unheimliche Ende, das im ppp mit decrescendo notiert ist und somit im Nichts verschwindet, geisterhaft, wie nicht von dieser Welt. Ein einmaliges Hörerlebnis, das einen in ca. 25 Minuten durch alle emotionalen Höhen und Tiefen führt. Es existiert eine wundervolle CD-Aufnahme von Schnittke Konzert für Klavier und Streicher, auf der auch Schnittkes Frau Irina mitwirkt, beim Label apex erschienen und für sehr wenig Geld zu haben (aktuell 6,99€): Viktoria Postnikova, Irina Schnittke, Gennadi Rozhdestvensky & London Sinfonietta.
2. Alfred Schnittke, Klaviersonaten
Schnittke hat drei Klaviersonaten komponiert: Nr. 1 (1987), Nr. 2 (1990) und Nr. 3 (1992). Diese Sonaten sind insgesamt sehr düster. Schnittke hat seine erste Klaviersonate kurz nach seinem ersten Schlaganfall (1985) zu schreiben begonnen. Die Erfahrung des Schlaganfalls hat ihn tief erschüttert und spürt viel von der Unruhe und der Angst in diesen Kompositionen. Denn 1991 erlitt er erneut einen Schlaganfall (und komponierte dann Sonate Nr. 3). Die dritte Sonate beginnt mit unruhig fragenden Lento im 4/2 Takt, über 15 Takte ausschließlich im Bassschlüssel notiert, denn die Sonate arbeitet v.a. mit tiefen Tönen. Der dritte Satz (ebenfalls Lento) enthält sogar sehr tiefe Töne mit Schnittkes Kommentar „Falls der Ton nicht vorhand ist, ist der tiefstmögliche Ton zu spielen“ (Takt 17; S. 9). Das Werk ist viersätzig (Lento – Allegro – Lento – Allegro) und weist viele Motive auf, die sich kreuzweise in den Sätzen wiederholen (z.B. die repetierenden hohen Töne in Satz 2+4, oder die düsteren Basslinien in Satz 1+3). Es endet mit dem Cluster einer verminderten Quarte (es-a) im Bass und mp.
Die zweite Sonate ist etwas weniger bedrückend, wenngleich auch sie von Unruhe und Sorge geprägt zu sein scheint, etwa gleich zu Beginn in den rastlos umherlaufenden Achtelfiguren (Moderato) oder die in Terzen absteigenden Cluster im dritten Satz (Allegro moderato, Takt 5), oder besonders die von Schnittke als „Tumultartige Improvisation vom tiefn zum hohen Register“ bezeichneten Schlusstakte mit der „Kulmination der Improvisation (ca. 7“)“ vom ff zum pp gehend. Sie enthält aber auch einige vereinzelte heitere Momente, die vielleicht auch die Widmung „Für Irina“ erklären, Schnittkes Ehefrau; so z.B. das „quasi poco rall.“ im dritten Satz (Seite 14). Hier scheint viel von der Sorge Irinas in Musik umgewandelt worden zu sein und ein Stück von der Dunkelheit und Angst zu erhellen, die den Rest der Sonate bestimmt.
Beide Sonaten, Nr. 2 und 3, liegen in einer schönen Aufnahme von Boris Berman vor: Schnittke: Piano Sonatas Nos. 2 and 3 / 5 Aphorisms (Boris Berman).
3. Alfred Schnittke, Kammermusik mit Klavier
Besondere Bekanntheit hat Schnittkes Klavierquintett (1972–76) erlangt. Der zweite Satz „In Tempo di Valse“ ist ein besonders eingängiges Beispiel für Schnittkes Kompositionstechnik. Es basiert auf einem sehr klassischen und berühmten Musikzitat, dem B-A-C-H, das sowohl J.S. Bach in seinen Kompositionen verwendete (etwa in der Kunst der Fuge, als Signatur sozusagen), als auch beispielsweise Franz Liszt (als Hommage an den großen Barockkomponisten). Gleichzeitig verarbeitet Schnittke das Thema in einen Walzer, also einer Musikform des 19. Jahrhunderts. Mit Fortschreiten der Musik zersetzt sich die Tonalität immer weiter, so dass die Atonalität des 20. Jhds., die Musikform des 19. Jhds. und ein musikalisches Zitat des 18. Jhds. nebeneinander stehen. Zunächst leise, langsam und melancholisch, dann zusehends energischer und wilder (was ein wenig an Ravels La Valse erinnert). Das Klavierquintett von Schnittke liegt in mehreren Aufnahmen vor. Es ist bei Naxos erschienen (Klavierquintette Von Schostakowitsch und Schnittke, Vermeer Quartet und Boris Berman), es ist beim renommierten BIS Label erschienen (The Tale Quartet und Roland Pöntinen) oder beim französischen Label ATMA Classique (Quatuor Monlinari und Louise Bessette).
Wer mehr über die Musik von Alfred Schnittke erfahren möchte, dem lege ich die Lektüre dieses sehr guten Artikels von Tom Service im Guardian (29. April 2013) ans Herz: „A guide to the music of Alfred Schnittke„.